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Beitrag vom 15.10.2016
Köpek - Geschichten aus Istanbul. Ein Film von Regisseurin Esen Işik. Ab 13. Oktober 2016 bundesweit im Kino
Hai-Hsin Lu
Istanbul, eine schillernde Metropole und drei ihrer Bewohner_innen, die unter den sozial-politischen Umständen leiden: Ein Junge, der nicht zur Schule gehen kann, eine Frau, die die Übergriffe ihres Ehemanns ertragen muss und eine Transsexuelle, die täglich Gewalt erfährt und...
... ihre große Liebe verliert.
Innerhalb weniger Monate ist die gesellschaftliche Situation der Türkei eskaliert: Ein Militärputsch, der blutig endete, eine Reihe von Terroranschlägen und die sich stetig verschärfende Unterdrückung von Minderheiten, Regimekritiker_innen und Andersdenkenden jeder Art. Hande Kader, eine 23-jährige Transfrau, beliebtes und bekanntes Gesicht der Istanbuler LGBT-Szene und engagierte Aktivistin, wurde im August 2016 verstümmelt und verbrannt aufgefunden. Die Trauer und Wut, die mehrere Hundert Menschen am darauffolgenden Sonntag auf die Straße trieben, galt jedoch nicht ausschließlich Kader – denn die Übergriffe häufen sich, sie sind inzwischen für die Menschen ein kaum zu ertragender Dauerzustand.
Häusliche Gewalt, Armut und Transphobie
Die türkisch-schweizerische Regisseurin Esen Işik greift in ihrem ersten Spielfilm "Köpek" die sozialpolitischen Umstände in der Türkei auf, indem sie mittels episodischer Erzählung drei unterschiedliche Menschen in Instanbul portraitiert, die sich nie begegnen, deren Leben jedoch von ähnlichen Themen und Zwängen beherrscht werden. Der zehnjärhige Cemo verkauft auf der Straße Taschentücher, um seine Familie zu unterstützen. Hayat ist verheiratet und Mutter einer Tochter – sie darf ohne Erlaubnis ihres Ehemanns nicht das Haus verlassen, nicht einmal zum Einkaufen. Die transsexuelle Ebru verdient ihren Lebensunterhalt als Prostituierte und sehnt sich nach einem ehemaligen Geliebten, der sich gegen sie und für eine "vorzeigbare" Ehe entschieden hat.
Behandelt wie Hunde
"Köpek", das bedeutet auf Türkisch "Hund". In der Handlung des Films lässt Işik den jungen Cemo tatsächlich einen verlassenen Welpen auf der Straße finden, jedoch trägt das Wort einen symbolischen Wert, der sich auf die gesellschaftliche Notlage der drei dargestellten Charaktere bezieht. Der Kontrast zwischen Cemo und dem wohlhabenden Mädchen, das er heimlich verehrt, gibt einen erschreckenden Einblick in die Realität der fehlenden Chancengleichheit: Zwei Kinder, das eine in Schuluniform und das andere mit einer Plastiktüte zwischen Autos stehend.
Die häusliche Gewalt, die Hayat erfährt, wird von den "Ordnungswächter_innen" und dem Staat geduldet, wenn nicht begrüßt. Ihr Ehemann kann ohne weiteres über ihren Alltag, ihre Existenz verfügen. Ebru wiederum begegnet täglich transphobe Gewalt, die sie stoisch erträgt. Eine Beziehung zu dem Mann, den sie liebt, ist auf Grund gesellschaftlicher Intoleranz nicht möglich. An dieser Stelle wird klar: Die drei Charaktere werden kaum besser behandelt als der Hund, der am Wegrand ausgesetzt und vergessen wurde.
"Ein langer, schmaler Weg"
Mit einem aufmerksamen Blick erzählt die Regisseurin die Geschichten, die in Istanbul, ihrer Heimatstadt, so alltäglich sind. In einem Interview mit dem Schweizer ZFF Daily berichtet sie, dass sie der Mord an der italienischen Aktionskünstlerin Pippa Bacca in der Türkei zutiefst berührt hätte. Diese warb mit der Aktion "Bräute on Tour" 2008 für Frieden in Krisengebieten. Das zeigt sich in einer Szene, in der Cemo an einer Gitarre-spielenden, jungen Frau im Brautkleid vorbeiläuft, die singt: "Ich wandere auf einem langen, schmalen Weg. Ich weiß nicht, wie mir ist. Ich wandere Tag und Nacht."
Dieser lange, schmale Weg ist der Lebensweg der drei Charaktere, die symbolische Figuren für all diejenigen sind, die unter den sozialpolitischen Umständen leiden. Esen Işik, die die Türkei 1990 verließ und in die Schweiz flüchtete, ist mit Dissens und politischer Verfolgung nur allzu vertraut: sie erfuhr aufgrund ihrer kurdischen Wurzeln schon früh Diskriminierung und kam für ihre linkspolitischen Aktivitäten 1989 für sechs Monate in Haft – damals war sie 19 Jahre alt. Die Kritik, die sie durch das Medium Film äußert, ist nun aktueller denn je. Im Interview mit dem ZFF Daily sprach Işik auch über die Schwierigkeit, kritische, politische Filme zu realisieren: "Viele Türen bleiben verschlossen." Für viele Oppositionelle, Künstler_innen, Filmemacher_innen und Journalist_innen ist ihr Schaffen nicht mehr möglich – zahlreiche von ihnen sind in Haft oder wurden unter Zwang entlassen.
Ein stiller Aufschrei
Hande Kader ist eine von vielen Opfern der Unterdrückung, die die Lebensrealität vieler Türk_innen heute beherrscht. Esen Işik hat mit ihrem Film den stillen, oft unbemerkten Terror des Alltags prägnant eingefangen und auf die Leinwand gebracht. Der Film wurde für den besten Film und die beste Darstellerin mit dem Schweizer Fimpreis 2016 ausgezeichnet, und das zu Recht. Denn er ist ein Aufschrei, der die Zuschauer_innen wachrüttelt.
AVIVA-Tipp: Ein Film, der die tägliche erlebte Gewalt, die Ungerechtigkeit und Unterdrückung in der Türkei thematisiert. Die Regisseurin bringt relevante Themen wie Gewalt gegen Frauen, sexuelle Minderheiten und Armut mit einem geschärften Blick zusammen und zeichnet so ein Bild des heutigen Istanbuls. Erschütternd und sehenswert!
Zur Regisseurin: Esen Işık, geboren 1971 in Istanbul, ist kurdisch-türkische Drehbuchautorin und Regisseurin. Sie war in der linkspolitischen Jugendbewegung aktiv, die sich nach dem Militärputsch 1980 formierte und kam 1989 für sechs Monate in Haft. Im folgenden Jahr floh sie zusammen mit ihrem Freund in die Schweiz, wo sie seit 1990 lebt. Sie studierte an der Zürcher Hochschule der Künste im Fachbereich Film und Video und produzierte seit 1997 zahlreiche Kurzfilme, darunter "Ölmeye Yatmak - Sich zum Sterben hinlegen" (1997), und "Du & Ich" (2012). Sie erhält für "Köpek" nun zum dritten Mal den Schweizer Filmpreis. Işık arbeitet außerdem im Frauenhaus und Beratungsstelle Zürcher Oberland.
Weitere Informationen: www.srf.ch
Köpek – Geschichten aus Istanbul
Schweiz/Türkei 2015
Buch und Regie: Esen Işık
DarstellerInnen: Oguzhan Sancar, Cagla Akalin, Beren Tuna, Baris Atay, Cemal Toktas
Verleih: GMfilms
Lauflänge: 94 Minuten
Kinostart: 13. Oktober 2016
www.gmfilms.de
Mehr Infos unter:
Twitter: Aktivist_innen starteten den Hashtag #HandeKadereSesVer – "Hande Kader eine Stimme geben"
Change.org: Frau Merkel, Herr Juncker: Fordern Sie Meinungsfreiheit in der Türkei! #FreeWordsTurkey
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